Fluchtweg
Abriss in der Lietzenburger Straße (Charlottenburg)
Abriss in der Lietzenburger Straße (Charlottenburg)
Nicht ist für die Ewigkeit! Trotz hartem Kern, hoher Wachsamkeit und optimistischem Blick in die Welt muss das einstige AOK-Gebäude in der Pallasstraße einem Neubauprojekt weichen. Vis-à-vis dem Winterfeldplatz entstehen nun Eigentumswohnungen im oberen Preissegment.
Seit 1899 gibt es Lichtspieltheater mit erotischem Programmschwerpunkt in Berlin. Spätestens seit sich bewegte Bilder jedes nur erdenklichen unkeuschen Inhalts per Mausblick auf den Monitor im stillen Kämmerlein zaubern lassen, stehen Etablissements dieser Art auf der Roten Liste (der vom Aussterben bedrohten Spezies). Allen Widrigkeiten zum Trotz öffnet diese einschlägige Filmbühne in der Wilmersdorfer Blissestraße bis heute ihre Pforte. Möglicherweise sind die unzweideutige Signalfarbe und das gepflegte Schmuddelimage die Bringer.
In Buchstaben gefasste Erinnerung an eine Epoche, als anstelle smarter „Juicer“ oder „Hunter“ sich noch schlagfertige Mannsbilder um die Gefährte kümmerten, mit denen die Berliner übers Großstadtpflaster huschten. Gesehen in der Krumme Straße in Charlottenburg.
Mit einem so bunten wie flüchtigen Cocktail aus Sprüchen und Bildern versehenes Ladenkokal in einem verwaisten Wohn- und Geschäftshaus in Friedrichshain.
Vergängliche Schöpfung aus reichlich Regenwasser, spätnachmittäglicher Strahlenfülle, alten Gemäuern, unzähligen Spraydosen und der unbändigen Frühlingskraft der Natur auf dem RAW-Gelände in Berlin-Friedrichshain, das einst Industrieareal war, heute diversen (Sub)Kulturen, Sportpassionierten und Partyjunkies ein Territorium bietet und zukünftig ein neues Stadtquartier mit noch nicht definiertem Charakter sein wird.
Evolution im Zeitraffer: in den innerstädtischen Bezirken schießen gerade überall Corona-Teststellen wie Pilze aus dem Boden. Sie besiedeln dabei Standorte von z.T. bizarren Unternehmungen, die sich nicht schnell bzw. erfolgreich genug den in Pandemiezeiten geltenden Lebensbedingungen anpassen konnten und sich daher zurückziehen mussten oder gar ausstarben.
Kühle Abstrichdisziplin statt hitziges Zockerlaster: neues Corona-Testcenter in ehemaliger Spielhölle am Nollendorfplatz.
An der Ecke Lietzenburger/Spichernstraße hat eine auf unansehnliche Gefährte spezialisierte Autovermietung das Feld geräumt. Statt das Steuer einer lahmen Ente gibt es hier jetzt im besten Fall eine eintägige Corona-Absolution in die Hand.
Endgültig abgeschaltet ist seit ein paar Tagen das Heizkraftwerk Wilmersdorf. Das verkehrsumtoste Kamintrio verschwindet in den nächsten Monaten völlig von der Bildfläche – und damit eine (zumindest für mich) eindrucksvolle Wegmarke auf der Fahrt von und nach Schöneberg.
Erlesene Leckereien, nützliche Utensilien zum Kochen und Putzen, kunterbunter Präsente-Krimskrams und emanzipative Gesinnungsspiritualität: dieser Laden in der Amsterdamer Straße im Wedding dürfte so ziemlich alles angeboten haben, was das Herz (eines großen Teils) der heimischen Damenwelt begehrt. Oder doch nicht? Geschäftsideen und Umsturzpläne scheinen jedenfalls nicht besonders nachhaltig gewesen zu sein.
Verwittert aber unmissverständlich: mit erhobenem Zeigefinger und rudimentärer Zeichensetzung an der Fassade empfängt die Marie-Elisabeth-Lüders-Oberschule (MELO) in Schöneberg nicht nur ihre eigene Klientel, sondern ermahnt auch jeden arglosen Passanten. Welch pädagogischer Wind wohl im Inneren des Gemäuers wehen mag?
Ich hatte gedacht, sie wären bereits ausgestorben. Meist versteckten sie sich unauffällig im Schatten von Hauswänden, drückten sich an eng an Mauern. Sie lockten nicht mit Blinklichtern, sie piepsten nicht und hatten natürlich auch keine leuchtende Touchscreen, die zum Befummeln einlädt. Und doch waren sie unglaublich anziehend, verbargen sich in ihrem Innern doch kostbare Schätze, an die zu gelangen trickreiche Beharrlichkeit erforderte. Mit einer Münze, einem geschickten Dreh und etwas Glück spukten sie dann blitzende Miniatur-Taschenmesser, springende Flummis oder Ringe mit Ein-Karäter-Plastik-Brilli aus. Im anderen Fall gab es nur etwas rundes süßes in Geschmacksrichtungen, die irgendwelche Lebemsmittelchemiker in Anlehnung an Apfel-, Himbeer- oder Zitronenaromen zusammengemixt hatten.
Ich traue daher meinen Augen kaum, als ich in der Amsterdamer Straße im Wedding gleich mehrere Exemplare dieser Spezies erspähte: Kaugummi-Automaten. Mein Spross ist natürlich für den Selbstversuch sofort zu haben. Der erste Apparat erweist sich leider als Enttäuschung. Arg ramponiert und seines Inhaltes beraubt, wird sein leere Hülle als Pinnwand für toxische Mitteilungen (Hinweis auf die Auslage von Rattengift und fantastische Forderungen politischer Extremisten) missbraucht.
Das zweite Exemplar ein paar Meter weiter ist etwas besser in Schuss. Es ist sogar befüllt. Doch anders als früher sind Süßigkeiten und Spielzeug jetzt strikt getrennt. Wir wagen die 10-Cent-Investition in die „billigere“ Nur-Kaugummi-Variante. Der Schlitz verschlingt die Münze ohne sich zu verschlucken. Der Griff lässt sich problemlos drehen. Klack, etwas ist in den Ausgabeschacht gefallen.
Es ist kugelig, grün, hart … und pelzig. Wessen Fellfragmente an der Kaugummi-Kugel haften: Keine Ahnung! Der Geschmackstest entfällt. Das unappetitliche Ding verschwindet im nahen BSR-Behältnis. So vernachlässigt werden die Kugel- und Krimskrams-Kameraden nicht überleben.
Eis schließt die rostigen Reste eines Schiffes im Berliner Osthafen ein. Das Wrack könnte von Tragödien erzählen. Der Eigner nannte es nach seiner tödlich verunglückten Frau. In den Nachwendezeiten schipperte die nobel ausgebaute „Dr. Ingrid Wengler“ Passagiere über die Wasserstraßen Brandenburgs und Europas. Bis ein Berliner Wasser- und Schifffahrtsamt nach Streit mit dem Eigner das Schiff in den Osthafen schleppen ließ und – so liest man – es seinem Schicksal überliess. Ein nicht geschlossenes Ventil und im Winter platzende Leitungen beschädigten das Schiff, die in Berlin überall heimischen Vandalen taten das ihrige. Nun vollendet der Zahn der Zeit stetig und unerbittlich das Zerstörungswerk.
Prägnanter Schalt- und Verteilerkasten mit eindringlichem Aufruf an alle Betriebsgenossen, nicht im Strom (mit) zu schwimmen. Gesehen in der Lokhalle des ehemaligen Bahnbetriebswerkes Tempelhof.
Dem Blick entzogen rauscht hinter den Baumreihen donnernd ein Schnellzug vorbei. Aufgeschreckt von diesem alle Geräusche des Waldes übertönenden Lärm streckt mir die gewaltige Güterzuglokomotive drohend ihre massiven „Stoßzähne“ entgegen, fokussiert mich mit starrem Blick, hebt warnend die rieisgen Ohren. Doch das einschüchternde Gehabe täuscht: längst ist das zähe Dampfross seiner inneren Werte beraubt und seine eherne schwarze Hülle wurde vor Jahren schon abgeschoben auf dieses tote Gleis. Der einsamen Maschine bin ich in der Nähe des früheren Bahnbetriebswerks begegnet, das sich heute auf dem Areal des Natur-Parks Südgelände befindet.
Bahnbrechende Symbiose von geradlinigem Alteisen und knorrigen Birkenrudeln auf dem Gelände des ehemaligen Rangierbahnhofs Tempelhof (heute Teil des Natur-Parks Südgelände).